25.01.2012 · Wieder kommt es zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen
Chinesen und Tibetern. Bei Protesten sind wohl mehrere Menschen ums Leben
gekommen. Der Dalai Lama spricht schon länger von „Genozid“. Nun äußert sich
der zuständige Minister für Tibet.
Von MICHAEL
RADUNSKI

© AFP
Gallionsfigur der
Tibeter: Tendzin Gyatsho, der aktuelle Dalai Lama
Immer
wieder kommt es in Tibet zu Selbstverbrennungen. Exiltibetischen Angaben
zufolge waren es schon 15 Selbstverbrennungen in weniger als einem Jahr. Sie
seien Ausdruck der Verzweiflung, sagt der Dalai Lama. Die Tibeter wollten
dadurch auf die Unterdrückung in den Klöstern der Region aufmerksam machen.
Zhu
Weiqun kann bei solchen Aussagen nur den Kopf schütteln. „Das ist doch billige
Propaganda“, sagt Zhu. „Wir respektieren und schützen die Religionsfreiheit.“
Mit „wir“ meint Zhu die chinesische Regierung in Peking. Denn Zhu Weiqun ist
Vizeminister der Einheitsfront im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei
China und innerhalb der chinesischen Regierung zuständig für Tibet. Regelmäßig
reist Zhu nach Tibet, erst vergangene Woche war er wieder dort und machte sich
selbst ein Bild von der Lage.
An
diesem nasskalten Tag ist Zhu jedoch nach Berlin gekommen. Mit im Gepäck hat er
viele Zahlen und Statistiken, die allesamt seine Aussagen belegen sollen. Er
lehnt sich zurück und zählt auf: Allein in den Jahren von 2006 bis 2010 habe
die Regierung 137 Milliarden Yuan (umgerechnet knapp 17 Milliarden Euro) in
Tibet investiert. Und im nächsten Fünfjahresplan von 2011 an seien gar
Investitionen von 330 Milliarden Yuan geplant. „Das Bruttoinlandsprodukt, das
Durchschnittseinkommen und die Lebenserwartung der Tibeter sind allesamt
gestiegen.“ Wie könne der Dalai Lama da ernsthaft behaupten, die Lage in Tibet
sei schlecht, die tibetische Bevölkerung würde gar aussterben. „Im Gegenteil.
Die Bevölkerungszahl stieg seit der Befreiung 1951 von einer Million auf drei
Millionen an.“ Den Einwand, dies seien vor allem zugezogene Han-Chinesen, lässt
Zhu nicht gelten. In erster Linie handele es sich um Tibeter, aber natürlich
auch um andere ethnische Gruppen wie Han oder Hui. So genau könne man das nicht
trennen, schließlich lebten zehn verschiedene Ethnien in Tibet.
Der Westen hänge an den Lippen des Dalai Lama
Schon
zu Beginn des Gesprächs mit dem chinesischen Vizeminister wird klar, neben
allerlei Statistiken hat er vor allem eines dabei: Zeit. Immer wieder wird der
chinesischen Regierung vorgeworfen, sich zu den Themen Tibet oder Dalai Lama
nur widerwillig und äußerst einsilbig zu äußern. Zhu will das ändern. Es sei
dringend notwendig, so Zhu, endlich einige Dinge richtig zu stellen. Der Westen
hänge zu sehr an den Lippen des Dalai Lama. Dabei sei dessen Strategie doch
sehr durchschaubar.
Jahrzehntelang
war der Dalai Lama politischer und geistiger Führer der Tibeter. In den 60er
und 70er Jahren hat er immer wieder lautstark die Unabhängigkeit Tibets
gefordert, doch seit 1988 spricht er von einer „Politik des Mittelwegs“. Das
Wort „Unabhängigkeit“ ist aus seinen Reden verschwunden, sein Ziel ist nunmehr
eine „kulturelle Autonomie“ für Tibet. Für Zhu ist das reine Wortspielerei, der
Dalai Lama verfolge nach wie vor die Unabhängigkeit.

Tibeter nicht nur in Tibet: diese Nonnen leben im Kloster
Ganden Jangchup Choeling nahe der Stadt Daofu in der Provinz Sichuan
Zhu
beugt sich über den Tisch, hebt die rechte Hand und zählt an den Finger auf:
Erstens lehne es der Dalai Lama auch heute noch ab, dass Tibet ein Teil Chinas
sei. Er behauptet, Tibet sei 1951 erobert worden. „Das entspricht nicht der
historischen Wahrheit.“ Zweitens spreche der Dalai Lama immer von Groß-Tibet
und meine damit alle Regionen, in denen Tibeter leben, also zum Beispiel auch
die Provinz Qinghai. „Doch diese Region hat noch nie zu Tibet gehört. Das
heutige Tibet umfasst 1,2 Millionen Quadratkilometer. Das Gebiet von dem der Dalai
Lama spricht, beträgt 2,5 Millionen Quadratkilometer. Das ist ein Viertel
Chinas.“ Drittens fordere der Dalai Lama, sämtliche Soldaten aus jenem
Groß-Tibet abzuziehen, um eine „internationale Friedenszone“ einzurichten.
Viertens: Würde es nach den Vorstellungen des Dalai Lama gehen, sollten alle
anderen in Groß-Tibet lebenden Nationalitäten vertrieben werden. 7,5 Millionen
Han-Chinesen wären davon betroffen. Und fünftens wolle der Dalai Lama, dass auf
besagten 2,5 Millionen Quadratkilometern neben Militär und Außenpolitik alles
unter seiner Kontrolle stehe. Nirgends dürfe sich die Zentralregierung
einmischen.
Der Dalai Lama hat „immer wieder Gewalt angewandt“
„Und
das nennt er dann Autonomie. Würde Deutschland eine solche Autonomie über ein
Viertel des Landes je akzeptieren?“, fragt Zhu und lehnt sich zurück. Er
verschränkt die Arme und schaut seinem Gegenüber tief in die Augen. „Sie sehen,
die Autonomie des Dalai Lama ist in Wirklichkeit die Unabhängigkeit Tibets.“
Tibet sei schon immer ein fester Bestandteil Chinas gewesen. „Und das wird auch
so bleiben“, stellt der Vizeminister klar.
Im
Westen ist der Dalai Lama Sympathieträger. Seine Veranstaltungen füllen ganze
Stadien. Vor allem sein Eintreten für Gewaltfreiheit verleiht ihm in Zeiten
globalen Terrorismus eine Art moralische Autorität. Doch für Zhu ist das eine
Farce. „Seit der Dalai Lama sich mit Politik befasst, hat er immer wieder
Gewalt angewandt.“ Ob in den 60er, Ende der 80er Jahre oder jüngst 2008, als es
zu Plünderungen in Lhasa kam – diese Ereignisse seien allesamt mit Wissen des
Dalai Lama organisiert worden. Manchmal sei sie sogar direkt von ihm
angestiftet worden. „Den Dalai Lama als gewaltlose Person zu bezeichnen: Das
ist ein Witz.“
Der
Vizeminister verweist auf die Selbstverbrennungen. „Der Dalai Lama hat gesagt,
diese Menschen seien Helden. Er bewundere ihren Mut.“ Durch solche Aussagen
würden die Menschen doch ermutigt, solche Gewalt gegen sich selbst anzuwenden.
„Das hat nichts mit Gewaltfreiheit zu tun. Der Dalai Lama ist nicht nur kriminell,
er versucht auch noch aus dem Buddhismus, einer Religion des Friedens und der
Zurückhaltung, eine gewaltsame Religion zu machen“, stellt Zhu klar. „Was wir
tun, was wir bekämpfen, ist gerecht. Und unsere Bemühungen werden vom Volk
unterstützt. Das ist das Allerwichtigste.“
Angesichts
solch verhärteter Positionen erscheint es fast als Chance, dass der Dalai Lama
vor einigen Monaten offiziell von seinen politischen Ämtern zurückgetreten ist.
In diesem Moment muss Zhu schmunzeln. „Also da muss ich mich doch sehr wundern.
Haben die westlichen Politiker, und auch die Medien, nicht bei jedem Empfang
des Dalai Lama behauptet, es sei nichts Politisches?! Die chinesische Regierung
solle sich nicht aufregen, schließlich sei der Dalai Lama lediglich das religiöse
Oberhaupt der Tibeter?! Wie kann er dann jetzt von all seinen politischen
Ämtern zurücktreten?“ Zhu scheint geradezu froh zu sein, dass dieser Punkt
angesprochen wurde. Für ihn und die chinesische Regierung ist es wichtig, auf
solche Unstimmigkeiten hinzuweisen.
Zhu
beugt sich herunter und kramt in seiner Aktentasche. Es dauert nur ein paar
Momente, schon hält er ein mehrseitiges weißes Dokument in seinen Händen: die
aktuelle „Verfassung“ der tibetischen Exilregierung um den Dalai Lama. „Hier
steht: Der Dalai Lama ist der allerhöchste Führer und Lehrer der Tibeter. Er
leitet die tibetische Nationalität bei dem moralischen Benehmen, der Religion
und Kultur sowie der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung an. Er
darf selbst oder durch einen „demokratisch gewählten Führer“ die „Tibet-Frage“
lösen. Er hat das Recht, mit internationalen Spitzenpolitikern und
Persönlichkeiten aller Kreise zusammenzutreffen und weiterhin Vertreter der
Ausland-Büros und Sonderbeauftragte der Exilregierung zu benennen.“ Zhu lässt
die Worte einige Momente wirken. Dann fragt er: „Kann man angesichts solcher
Aufgaben von einem Rücktritt von allen politischen Ämtern sprechen? Ich finde
nicht.“
Ein Land, zwei System nicht für Tibet
Offiziell
hat der Dalai Lama den Harvard-Absolventen Lobsang Sangay als neuen politischen
Führer der Tibeter benannt. Wenn schon nicht mit dem Dalai Lama, so könnte doch
zumindest mit Lobsang Sangay eine Lösung erzielt werden. Und der scheint die
Chance eines Neubeginns nutzen zu wollen. Geht es nach Sangay soll „Ein Land,
zwei Systeme“ nach Hongkong und Macau nun auch für Tibet die Lösung sein.
„Lobsang Sangay ist Jurist und daher kann man seinen Vorschlag nicht mit
Unwissenheit erklären“, erwidert Zhu. „Er kennt die Umstände in Tibet sehr genau
und wollte daher mit seinem Vorschlag nur die chinesische Regierung
provozieren.“ Für die chinesische Regierung ist „Ein Land, zwei Systeme“ nicht
auf Tibet übertragbar. Unter den tibetischen Bedingungen könne dieser Ansatz
einfach nicht funktionieren, erklärt Zhu. „Hongkong, wie auch Macau, waren
jahrelang von einer westlichen Macht besetzt. Beide waren von China getrennt.
Tibet hingegen war nie von China getrennt, es war und wird immer fester
Bestandteil des chinesischen Territoriums sein.“
In
Hongkong und Macau hätten sich die Menschen, die Kultur und die Wirtschaft
durch den fremden Einfluss sehr stark verändert. Oder die wirtschaftliche
Ordnung: Während in China Sozialismus herrschte, entstand in Hongkong ein
kapitalistisches System britischen Vorbilds. „Um das wieder zusammenzuführen,
haben wir den Ansatz Ein Land, zwei Kulturen entwickelt. Im Falle Tibets würde
das bedeuten, dass wir wieder die Leibeigenschaft einführen würden. Das kann
doch ernsthaft niemand wollen. Die Tibeter und wir wollen das jedenfalls
nicht.“
„Unsere Tür steht offen“
Nicht
nur die Idee „Ein Land, zwei Systeme“ lehnt die chinesische Regierung ab,
sondern auch den Führungsanspruch von Lobsang Sangay. „Lobsang Sangay ist
Anführer einer separatistischen politischen Gruppe ohne Legitimität. Wir wollen
keinen Kontakt zu ihm, geschweige mit ihm verhandeln.“
Leise
öffnet sich die Tür und eine Angestellte der chinesischen Botschaft in Berlin
gießt Tee nach, grüner Tee. Er dufte zart und hat eine beruhigende Wirkung. Das
Gespräch mit Herrn Zhu verdeutlicht, dass die chinesische Regierung um mehr
Verständnis werben will. Der Vorwurf, man würde den westlichen Medien nicht
Rede und Antwort stehen, wird an diesem Tag eindeutig widerlegt.
Doch
ebenso treten immer wieder die verhärteten Fronten zwischen der chinesischen
Regierung und der tibetischen Exilregierung offen zu Tage. Ist unter diesen
Voraussetzungen überhaupt eine Lösung möglich? „Wir haben nie die Verhandlungen
abgebrochen, das war die Gruppe um den Dalai Lama.“ Der Dalai Lama müsse lediglich
seinen Separatismus aufgeben, Tibet als Teil von China betrachten und aufhören,
von einem Groß-Tibet zu sprechen. „Unsere
Tür steht nach wie vor offen.“
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